Anonymität im Internet

Politische Debatte

Die Debatte um die Anonymität im Internet ist (wieder einmal) entbrannt. Bereits vor einigen Jahren hatte Jörg Ziercke, seines Zeichens Präsident des Bundeskriminalamtes, auf einer Tagung festgestellt:

Verschlüsselung und Anonymisierung schaffen verfolgungsfreie Räume mit fatalen Folgen für die Innere Sicherheit, sowohl für die Strafverfolgung als auch für die Gefahrenabwehr.

Auf den gleichen Zug springt auch Innenminister Friedrich auf. Er erklärte kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel:

Das Internet stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Die Grundsätze unserer Rechtsordnung müssen auch im Netz gelten. In der demokratischen Auseinandersetzung streiten wir mit offenem Visier auf Basis unserer verfassungsmäßigen Spielregeln. Warum sollte das im Internet anders sein? Ich weiß, dass mir das in der Netzgemeinde wüste Beschimpfungen einbringen wird, aber warum müssen Fjordman und andere anonyme Blogger ihre wahre Identität nicht offenbaren? Normalerweise stehen Menschen mit ihren Namen für etwas ein. Warum nicht auch ganz selbstverständlich im Internet?

Dies läuft ganz konform mit den früheren Forderungen von CDU-Politiker Axel Fischer, der 2010 ein “Vermummungsverbot im Internet” gefordert hatte:

Es kann nicht sein, dass sich viele Bürger in Foren oder anderen Einrichtungen des Netzes hinter selbstgewählten Pseudonymen verstecken und sich so vermeintlich jeglicher Verantwortung für Äußerungen und Verhalten entziehen.

Noch einen Schritt weiter geht der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hans-Peter Uhl, der “gravierende Nachteile” durch Anonymität im Internet beklagt:

Erst durch die Anonymität ist die Verbreitung von Kinderpornografie oder extremistischem Gedankengut in einem nie gekannten Ausmaß möglich.

Diese Debatte um Anonymität und Pseudonymität beschränkt sich aber nicht auf die Politik. Auch bei Google vollzieht sich offenbar gerade ein Paradigmenwechsel. Während der Konzern jahrelang betonte, dass kein Interesse an der Identität der Nutzer bestehe, wurde mit der Einführung von Google+ eine Kehrtwende vollzogen: Nunmehr dürfen ausschließlich Profilseiten unter dem realen Namen angelegt werden. Die Verhaltensrichtlinien weisen an: “Verwenden Sie den Namen, mit dem Sie normalerweise von Freunden, Familie und Kollegen angesprochen werden.” Seiten, die unter Pseudonym angelegt wurden, sind in der Vergangenheit bereits mehrfach gelöscht worden.

Bedeutung von Pseudonymen

Letztlich sind diese Forderungen zu kurz und vor allem nicht zu Ende gedacht. So kann man Fischer zwar zugeben, dass etwa in dem von ihm genannten Fall der wirtschaftlichen Betätigung im Netz in der Tat eine verlässliche Identifizierung sinnvoll erscheint, z.B. um Forderungen gegen einen Anbieter durchsetzen zu können. Dies ist aber nichts Neues und schon gar keine sinnvolle Forderung, denn: es ist bereits Gesetz. Alle Diensteanbieter müssen für geschäftsmäßige, in der Regel gegen Entgelt angebotene Telemedien gleich eine ganze Reihe von Informationen “leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar” halten (§ 5 TMG, § 55 RStV; hierzu näher Ott, Die Impressumspflicht). Ob darüber hinaus, wie von Fischer gefordert, der Nachweis mittels elektronischem Personalausweis oder auf andere Weise nachzuweisen ist, darüber kann man in der Tat diskutieren. Dies ist aber nur ein Randaspekt der Diskussion

Soweit aber Ziercke, Friedrich oder Fischer ernsthaft fordern, Pseudonyme oder gleich ganz die Anonymität im Internet abzuschaffen, übersehen sie zunächst die Bedeutung, die anonyme oder pseudonyme Handlungen für den Einzelnen haben können.  Bei Pseudonymen geht es nicht nur darum, seinen gewohnten Nickname nutzen zu können oder unerkannt Dritte zu ärgern oder schädigen zu wollen, wie dies von einigen Politikern meist impliziert wird. Vielmehr ist es ganz häufig ein Schutzgedanke, der Menschen dazu bringt, im Internet nur unter Pseudonym zu handeln. Dies kann der Schutz gegen Spammer, gegen automatisiert erstellte Persönlichkeitsprofile, gegen Stalker oder etwa vor neugierigen Arbeitgebern sein. Wer möchte schon gerne intime Fragestellungen vor der ganzen Welt diskutieren? In einigen Ländern kann eine Veröffentlichung unter echtem Namen zu langjährigen Haftstrafen oder sogar dem Tod führen.

Die Nutzung von Pseudonymen erlaubt es auch, dies lässt sich nicht leugnen, sich wie die berühmte “Axt im Walde” aufzuführen und Dinge zu tun, die man face-to-face gerade nicht tun würde. Vor allem erlauben Pseudonyme es aber, sich ungehindert über Fragen der Sexualität, Krankheiten oder Behinderungen sowie über politische Ansichten mit unbekannten Dritten auszutauschen, ohne hierfür sofort Konsequenzen im privaten oder beruflichen Umfeld fürchten zu müssen. Ein genereller Zwang zur Klarnamenpflicht würde daher weit über das gewünschte Ziel, Menschen in bestimmten Situationen identifizieren zu können, hinausgehen. Die Internetforscherin Danah Boyd kommt daher zu der deutlichen Schlussfolgerung:

“Der Zwang zu echten Namen ist eine autoritäre Ausübung von Macht gegenüber verletzlichen Menschen. Es steht das Recht der Menschen auf dem Spiel, sich selbst zu schützen”.

Vielleicht waren es diese Gedanken, die zumindest Innenminister Friedrich inzwischen dazu bewogen haben, seine Worte noch einmal neu interpretieren zu lassen. Es handele sich um ein “Missverständnis”, Friedrich habe doch lediglich für eine demokratische Streitkultur im Netz werben wollen, lässt eine Ministeriumssprecherin ausrichten. Auch der Minister sei “nach wie vor” der Ansicht, dass es auch im Internet Bereiche gebe, in denen Anonymität sinnvoll sei.

Mit dieser “Klarstellung” ist es aber nicht getan, denn auch der zweite Teil seiner Äußerung, der Vergleich zwischen Online- und Offlinewelt, hinkt.

Anonymität im Internet

Wenn Friedrich etwa meint, normalerweise stünden Menschen mit ihrem Namen für etwas ein und damit implizieren möchte, Anonymität sei üblicherweise die Ausnahme, Identifizierbarkeit hingegen die Regel, dann täuscht er sich dabei. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Regelmäßig geht es allerdings gar nicht darum, wie offenbar von Friedrich befürchtet, etwas zu verheimlichen oder zu verstecken. Vielmehr spielt die Identität einer Person in vielen Fällen schlicht keine Rolle; sie ist bedeutungslos. So wären die meisten Menschen überrascht, wenn sie etwa vom Kassierer im Supermarkt aufgefordert würden, sich zunächst persönlich vorzustellen und ggf. sogar einen Personalausweis vorzustellen, bevor die auf das Förderband gelegten Waren bezahlt werden können. Vielmehr ist der anonyme Einkauf die Regel, der Austausch von Waren gegen Geld steht im Vordergrund, nicht die Identität der jeweils anderen Person. Viele weitere Motive für ein anonymes Auftreten lassen sich nennen (z.B. institutionalisierte Anonymität, etwa bei den Anonymen Alkoholikern, Schutz der Privatsphäre bis hin zum physischen Schutz, etwa bei Informanten im Bereich der organisierten Kriminalität). Auch Meinungsäußerungen finden nicht stets unter Namensnennung oder identifizierbar statt, z.B. bei Demonstrationen oder bei Leserbriefen, die – gerade bei kontroversen Themen – ohne Namensnennung erfolgen oder bei denen der volle Name nur der Redaktion bekannt ist.

Forderungen nach der Abschaffung der Anonymität im Internet (die sich zudem auch technisch und aufgrund der Internationalität des Netzes nicht ernsthaft durchsetzen ließe) lassen sich nur deshalb so leicht fordern, weil im Internet ohnehin vielen Daten anfallen, die sich für eine Identifizierung nutzen lassen (z.B. die IP-Adresse). Sowohl Kontrollmaßnahmen, wie die hier geforderte Identifizierungspflicht, als auch Ermittlungsmöglichkeiten (wie z.B. durch die Vorratsdatenspeicherung) lassen sich daher besonders leicht fordern und – einen entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt – auch durchsetzen.

Gerade diese technisch bedingte grundsätzliche Rückverfolgbarkeit müsste jedoch eigentlich zum gegenteiligen Schluss führen: Notwendig wäre ein besonderer Schutz der o.g. sensiblen Meinungsäußerungen. Dieser kann aber nur dadurch erreicht werden, dass die stärkste Form des Datenschutzes zugelassen – oder besser: gefordert – wird: die Möglichkeit der vollständigen Anonymität.